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BSG, Urt. v. 17. Februar 2010 – B 1 KR 10/09 R

1. Krankheit ist nicht nur der krankheitsbedingte Eintritt der Empfängnisunfähigkeit, sondern auch die wegen der Therapie einer Krankheit konkret drohende Empfängnisunfähigkeit.
2. Der Versicherungsfall der Krankheit ist in Abgrenzung zu dem Versicherungsfall der Herbeiführung einer Schwangerschaft betroffen, wenn die Behandlung dazu führen soll, auf natürlichem Weg Kinder zu zeugen.

(Leitsätze des Gerichts)

Der Fall:
Die Beteiligten stritten über die Kosten der Lagerung von Eierstockgewebe durch Kryokonservierung.

Die bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Klägerin erkrankte im Jahre 2006 an einem Mammakarzinom. Am 3. Januar 2007 beantragte sie bei der Beklagten, die Kosten für die Entnahme und Aufbewahrung von Gewebe aus den Eierstöcken zu übernehmen. Sie dazu legte eine ärztliche Bescheinigung vom 4. Januar 2007 vor: Die Kryokonservierung von Eierstockgewebe sei erforderlich, weil die Klägerin nach der Chemotherapie mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 % nie mehr einen Eisprung haben werde und somit im späteren Leben keine eigenen Kinder mehr gebären könne. Deshalb solle eizellbildendes Gewebe entnommen, eingefroren, später aufgetaut und in den Körper der Klägerin reimplantiert werden; Ziel sei es, die Fertilität der Klägerin wenigstens teilweise zu erhalten.

Die Beklagte lehnte die „Übernahme von Kosten, die im Zusammenhang mit einer Kryokonservierung von Eierstockgewebe … entstehen,“ mit Bescheid vom 4. Januar 2007 und Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2007ab, weil sie keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sei.

Am 10. Januar 2007 wurde das Mammakarzinom operativ entfernt und gleichzeitig durch Biopsie Ovargewebe zur Kryokonservierung entnommen. Danach wurde die Chemotherapie durchgeführt. Das der Klägerin entnommene Eierstockgewebe wurde eingelagert. Am 17. Juli 2007, 19. Januar 2008, 7. Juli 2008 und 14. Januar 2009 bezahlte die Klägerin für die Lagerung inklusive des Verbrauchs von Flüssig-Stickstoff und die Bereitstellung in der Zeit vom 1. Juli 2007 bis zum 30. Juni 2009 jeweils für das laufende Halbjahr 142,80 Euro.

Das Sozialgericht hat die Klage unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG SozR 4-2500 § 27a Nr. 1) mit Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2007 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Die Kryokonservierung sei keine Krankenbehandlung, die unter § 27 Abs 1 Satz 1 und 4 SGB V falle, denn die Empfängnisunfähigkeit als Folge der Chemotherapie werde dadurch nicht geheilt. Auch gehöre die begehrte Konservierung nicht zu den Leistungen nach § 27a SGB V, weil sich eine künstliche Befruchtung nur auf Maßnahmen erstrecke, die dem Zeugungsakt entsprächen und unmittelbar der Befruchtung dienten.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 27 Abs. 1 S. 1 und S. 4 SGB V: Die Einlagerung von Eierstockgewebe sei eine originäre Krankenbehandlung, sie sei nicht mit Maßnahmen der künstlichen Befruchtung verbunden. Wegen der damals drohenden, inzwischen eingetretenen Unfruchtbarkeit durch die Chemotherapie sei die Kryokonservierung eine für die Wiederherstellung der Empfängnisfähigkeit notwendige Krankenbehandlung; sie diene zumindest der Linderung von Krankheitsfolgen. Anders als die Einlagerung von männlichem Samen, der „hilfsmittelgleich“ der späteren (künstlichen) Befruchtung diene, unterscheide sich die Konservierung von weiblichem Eierstockgewebe nicht von der als Leistung nach dem SGB V anerkannten präoperativen Eigenblutspende nebst Einlagerung.

Die Entscheidung:
Die Revision der Klägerin war im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG erfolgreich.

Für die Entscheidung, ob die Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 S. 1 Fall 2 SGB V erfüllt sind, bedürfe es weiterer Feststellungen des LSG. Dazu müsste die Klägerin die Kryokonservierung und Lagerung von Eierstockgewebe als Teil einer Krankenbehandlung zur Wiederherstellung der Empfängnisunfähigkeit i.S.d. § 27 Abs. 1 SGB V beanspruchen können. Insoweit fehle es an Feststellungen zum Eintritt des Versicherungsfalls der „Krankheit“, der abzugrenzen ist vom Versicherungsfall der künstlichen Befruchtung nach § 27a SGB V.

Ginge es bei der Behandlungsmethode um Leistungen nach § 27a SGB V, hätte die Klägerin keinen Leistungsanspruch, denn diese Regelung erfasse nur Maßnahmen, die einem natürlichen Zeugungsakt entsprechen und unmittelbar der Befruchtung dienen (vgl. BSG, Urt. v. 25. Mai 2000 – B 8 KN 3/99 KR R = SozR 3-2500 § 27a Nr 1).

Sollte dagegen auf Grund der bei der Entnahme des Gewebes bestehenden Krebserkrankung und der Behandlungsfolgen durch die Chemotherapie eine unmittelbare, konkrete Gefahr des Verlustes der Empfängnisfähigkeit der Klägerin bestanden haben, wäre dies für die Annahme einer „Krankheit“ ausreichend.

Ob die Entnahme, Lagerung und spätere Reimplantation des Eierstockgewebes unter dem Aspekt des Qualitätsgebots (§ 2 Abs. 1 S. 3 SGB V) eine von der Leistungspflicht umfasste Behandlungsmethode war, hänge auch davon ab, ob die Reimplantation als wesentlicher Teil der Behandlungsmaßnahme entsprechend den Regeln der ärztlichen Kunst regelmäßig als ambulante Behandlung oder als stationäre Krankenhausbehandlung durchzuführen ist. Ein Anspruch auf eine ambulante Versorgung könne – sofern kein Ausnahmefall vorliegt – daran scheitern, dass der Gemeinsame Bundesausschuss die neue Methode noch nicht zur Anwendung in der GKV empfohlen hat. Für den (alternativ in Betracht kommenden) Anspruch der Klägerin auf Krankenhausbehandlung bedürfe es trotz Fehlens eines Negativvotums nach § 137c SGB V der Feststellung, dass die streitige Maßnahme dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Den insoweit bestehenden Hinweisen, dass es sich um eine Behandlungsmethode handelt, die sich noch „im experimentellen Stadium“ befindet, müsse das LSG im weiteren Rechtsstreit nachgehen, soweit die Frage entscheidungserheblich ist.

Sollte ein Naturalleistungsanspruch der Klägerin bestehen, müsse das LSG schließlich das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs feststellen.

Die beantragte Lagerung des Eierstockgewebes längstens bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres der Klägerin (entsprechend der in § 27a Abs. 3 S. 1 SGB V vorgesehenen Altergrenze) erscheine sachgerecht.
(LH)