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BSG, Urt. v. 03. März 2009 – B 1 KR 7/08 R

1.) Treffen Leistungserbringer und Krankenkasse über das Leistungsentgelt eine Nettopreisabrede, ist für die Vergütung des Leistungserbringers die ihm gegenüber von der Finanzverwaltung verbindlich festgesetzte Umsatzsteuer, hier mit dem vollen Satz von 16 %, maßgeblich (Anschluss an BSG, Urt. v. 17. Juli 2008 – B 3 KR 18/07 R).
2.) Bei einer Nettopreisabrede besteht keine vertragliche Nebenpflicht des Leistungserbringers zur gerichtlichen Überprüfung der umsatzsteuerlichen Festlegung der Finanzverwaltung.
(Leitsätze des Bearbeiters)

Der Hintergrund:
Die klagende GmbH vertreibt so genannte enterale Nahrung. Dabei handelt es sich um Krankenkost in Form einer verflüssigten Substanz für Personen, die per Magensonde und Schlauchsystem ernährt werden müssen.

Seit dem März 2001 war sie gegenüber der beklagten AOK Sachsen-Anhalt befugt, deren Versicherte mit Präparaten der enteralen Ernährung zu versorgen. Zu vergüten hatte die Krankenkasse die Sondennahrung nach der Formel: „Apothekeneinkaufspreis zuzüglich 12 % plus Mehrwertsteuer, abzüglich 2 % Skonto bei Zahlung innerhalb von 10 Tagen“.

Im Jahr 2003 nahm die Finanzverwaltung der beigeladenen Bundesrepublik Deutschland den Standpunkt ein, enterale Nahrung sei nicht mehr mit dem für „Lebensmittel“ geltenden ermäßigten Umsatzsteuersatz von 7 % zu versteuern, sondern mit 16 %. Die enterale Nahrung sei wegen ihrer verflüssigten Substanz nämlich den Getränken zuzuordnen.

Dem folgend berechnete die Klägerin der Beklagten für Lieferungen ab dem 01. Juli 2003 in Abkehr von der bis dahin geübten Praxis fortan 16 % Umsatzsteuer.

Die Beklagte war dagegen der Ansicht, die enterale Nahrung sei weiterhin als „Lebensmittel“ anzusehen. Sie beglich die in Rechnung gestellten Nettobeträge auch weiterhin lediglich zuzüglich 7 % Umsatzsteuer.

Nach erfolgloser Mahnung hat die Klägerin die Beklagte im Klageweg auf Zahlung eines bis 25. August 2003 angefallenen Umsatzsteuer-Differenzbetrages nebst Verzugszinsen in Anspruch genommen.

Das Sozialgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Das Landessozialgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Zwar sei die Rechtsauffassung der beigeladenen Finanzverwaltung unzutreffend, weil die gelieferten Präparate keine Getränke seien. Die Beklagte dürfe aber nicht beanstanden, dass sich die Klägerin als Steuerschuldnerin konform zu den unmissverständlichen Auskünften der Finanzbehörden verhalten habe. Aus der Zulassung als Leistungserbringerin erwachse der Klägerin keine Nebenpflicht, klageweise gegen die Beigeladene vorzugehen.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung ihres Justizgewährleistungsanspruchs (Art. 20 Abs. 3, Art. 92, Art. 95 GG). Das Landessozialgericht habe seine Kompetenz zur Entscheidung der umsatzsteuerrechtlichen Vorfrage nicht wahrgenommen. Diese Entscheidung hätte ergeben, dass für Sondennahrung nur ein Umsatzsteuersatz von 7 % in Betracht komme. Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit müssten von Amts wegen die objektive Rechtslage im Umsatzsteuerrecht ermitteln und seien nicht in ihrer Vorfragenkompetenz begrenzt. Eine Bindung an die fehlerhafte Rechtsauffassung der Finanzbehörden dürfe nicht über die vom Landessozialgericht vorgenommene Vertragsauslegung konstruiert werden. Die Finanzverwaltung sei nicht befugt, Entscheidungen zu Lasten Dritter zu treffen, ohne dabei gerichtlicher Kontrolle zu unterliegen.

Die Entscheidung:
Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Das Landessozialgericht habe zu Recht entschieden, dass die Beklagte die Umsatzsteuerbeträge in den Rechnungen der Klägerin für gelieferte enterale Nahrung nicht kürzen durfte und dass die Klägerin deshalb noch Vergütungsansprüche im geltend gemachten Umfang hat.

Dies folge aus der Nettopreisabrede der Rahmenvereinbarung aus dem März 2001 „Apothekenabgabepreis + 12 % + Mehrwertsteuer“. Danach sei für die Vergütung die von der Klägerin abzuführende Umsatzsteuer maßgeblich, wie sie durch die Finanzverwaltung konkretisiert wird.

Der Senat schließe sich der Rechtsprechung des 3. Senats des BSG an (Urteil vom 17. Juli 2008 – B 3 KR 18/07 R).

Die Klägerin habe sich als Steuerschuldnerin an ihr erteilte Zolltarifauskünfte und Äußerungen der Steuerverwaltung gehalten. Danach habe die gelieferte verflüssigte enterale Nahrung einem Umsatzsteuersatz von 16 % unterlegen.

Auch habe die Klägerin dadurch, dass sie die umsatzsteuerliche Frage nicht zur Überprüfung durch das Finanzgericht gestellt habe, keine vertragliche Nebenpflicht verletzt. Eine solche Nebenpflicht bestehe nämlich schon deshalb nicht, weil die Klägerin am Ausgang eines solchen Verfahrens kein eigenes wirtschaftliches Interesse gehabt habe. Sie hätte das Kostenrisiko eines Rechtsstreits ausschließlich im wirtschaftlichen Interesse der Beklagten zu tragen gehabt. Dazu habe keine Verpflichtung bestanden.

Der Justizgewährleistungsanspruch der beklagten Krankenkasse sei durch diese Rechtslage nicht beeinträchtigt. In der Sozialgerichtsbarkeit könne sie die Richtigkeit ihrer Ansicht dazu überprüfen lassen, welcher Umsatzsteuersatz im Verhältnis zur Klägerin nach den in der Rahmenvereinbarung getroffenen Abreden maßgeblich sei, nicht aber, welcher Umsatzsteuersatz allgemein für enterale Nahrung gilt. Die Beklagte hätte hierzu mit der Klägerin deren Verpflichtung vereinbaren können, im Verhältnis zu den Steuerbehörden verbindlich den Umsatzsteuersatz für verflüssigte enterale Nahrung zu klären.

Konsequenzen für die Praxis:
Die Entscheidung verdient uneingeschränkte Zustimmung.

Die Risikozuweisung, dass der Leistungserbringer bei einer Nettopreisabrede nicht ohne Weiteres zur gerichtlichen Überprüfung der Festlegung der Finanzbehörden verpflicht ist, entspricht allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Die im Rahmen der Vergütung vereinnahmte Umsatzsteuer stellt beim Leistungserbringer faktisch einen durchlaufenden Posten dar. Er bleibt durch die Nettopreisabrede zwar im Verhältnis zum Fiskus weiter steuerpflichtig, Steuerträger ist aber einzig die Krankenkasse. Einzig der Krankenkasse kann daher an der Festsetzung eines bestimmten, geringeren Steuersatzes gelegen sein. Möchte die Krankenkasse dieses eigene Interesse durchsetzen, muss sie auch die dafür anfallenden Kosten tragen.
(LH)