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BSG, Urteil vom 08.10.2014, Az.: B 3 P 4/13 R
Die parenterale Ernährung ist nach Maßgabe von § 14 Abs. 4 i.V.m. § 15 Abs. 3 S. 3 SGB XI eine verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme und der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die hierzu erforderlichen Hilfeleistungen benötigt, ist für die Bestimmung der Pflegestufe zu berücksichtigen.
Was ist passiert?
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für die Zeit ab Januar 2010 Pflegegeld der Pflegestufe II statt der zuerkannten Pflegestufe I zusteht.
Der am 11.8.2000 geborene Kläger ist bei der Beklagten pflegeversichert und erhält seit 16.12.2009 Pflegegeld nach der Pflegestufe I. Nach einer schweren Darmnekrose im Alter von vier Jahren mit mehrfachen Operationen leidet er an einem schweren Kurzdarm-Syndrom. Ein Versuch mit Sondenkosternährung musste wegen zu geringer Resorptionsmenge aufgegeben werden. Der Kläger nimmt ca 8 bis 12 kleine Mahlzeiten täglich zu sich und wird daneben intravenös über Broviac-Katheter ernährt (parenterale Ernährung). Die Stoffwechsellage ist weiter instabil, es kommt zu intermittierenden Azidosen und Unterzuckerungszuständen.
Eine am 5.1.2010 beantragte Höherstufung auf Geldleistungen nach der Pflegestufe II lehnte die Beklagte nach Einholung eines sozialmedizinischen Pflegegutachtens, in dem ein Zeitbedarf für die Grundpflege von 53 Minuten täglich festgestellt worden war, ab (Bescheid vom 26.1.2010). Auf den Widerspruch der Mutter des Klägers bestätigte die Gutachterin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) einen durch die zwei bis drei Mal wöchentlich auftretenden Azidosen verursachten pflegerischen Mehraufwand von ca 10 Minuten täglich, lies aber den Zeitaufwand für die parenterale Ernährung weiter unberücksichtigt. Auf dieser Grundlage wies der Widerspruchsausschuss den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 31.5.2010).
Klage und Berufungsverfahren sind erfolglos geblieben (Urteil des SG Trier vom 28.9.2012; Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 19.8.2013). Das LSG hat ausgeführt: Die parenterale Ernährung gehöre nicht zur Verrichtung der Nahrungsaufnahme (§ 14 Abs 4 Nr 2 SGB XI), die grundsätzlich über den Mund erfolge. Deshalb werde das „mundgerechte Zubereiten der Nahrung“ zur Grundpflege gerechnet (§ 14 Abs 4 Nr 2 SGB XI).
Was sagt das BSG dazu?
Das BSG entschied, dass die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht begründet ist.
Der Zeitaufwand, den eine Pflegeperson für die erforderlichen Hilfeleistungen zur parenteralen Ernährung benötigt, sei für die Zuordnung zu einer Pflegestufe zu berücksichtigen. Da weder dieser noch im Übrigen der für die Zuordnung des Klägers zu einer Pflegestufe erforderliche Zeitaufwand insgesamt hinreichend festgestellt wurde, hätte der Senat nicht entscheiden können, ob die Voraussetzungen der Pflegestufe II vorliegen.
Bei der Feststellung des Zeitaufwandes sei nach § 15 Abs 3 Satz 2 SGB XI ein Zeitaufwand für erforderliche verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen zu berücksichtigen; dies gelte auch dann, wenn der Hilfebedarf zu Leistungen nach dem Fünften Buch führt. Verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen sind nach § 15 Abs 3 Satz 3 SGB XI Maßnahmen der Behandlungspflege, bei denen der behandlungspflegerische Hilfebedarf untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung nach § 14 Abs 4 SGB XI ist oder mit einer solchen Verrichtung notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang steht.
Nach Maßgabe dieser Vorschriften sei die parenterale Ernährung eine verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme und der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die hierzu erforderlichen Hilfeleistungen benötigt, sei für die Bestimmung der Pflegestufe zu berücksichtigen. Denn die parenterale Ernährung sei untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung nach § 14 Abs 4 Nr 2 SGB XI, nämlich der Nahrungsaufnahme.
Die Rechtsprechung gehe von einem untrennbaren Zusammenhang mit einer Verrichtung der Grundpflege aus, wenn diese durch eine Maßnahme der Behandlungspflege ersetzt werde. So werde etwa bei der Sondenernährung die übliche Nahrungsaufnahme, bei der Stomaversorgung zur Darmentleerung das Ausscheiden oder bei der Katheterisierung die Blasenentleerung jeweils durch eine Maßnahme der Behandlungspflege ersetzt. Das Ersetzen einer Katalogverrichtung durch eine Behandlungsmaßnahme mache besonders deutlich, dass die dabei erforderlichen Hilfeleistungen untrennbarer Bestandteil der Hilfe für die Katalogverrichtungen seien.
Beim Kläger werde die Nahrungsaufnahme teilweise durch die parenterale Ernährung, die intravenös über den Broviac-Katheter erfolgt, ersetzt. Deshalb komme es nicht darauf an, zu welcher Tageszeit die parenterale Ernährung erfolgt. Denn auf einen unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang sei nur abzustellen, wenn die Maßnahme nicht schon untrennbarer Bestandteil einer Katalogverrichtung ist, weil sie diese ersetze.
Zur Nahrungsaufnahme würden alle Verrichtungen gehören, die unmittelbar zur Aufnahme von Nahrung in den Körper führen. Eine Einschränkung auf die orale Nahrungsaufnahme sei bei der gebotenen weiten Auslegung der Verrichtungen des Katalogs in § 14 Abs 4 SGB XI nicht gerechtfertigt. Insbesondere lasse sich eine solche Einschränkung nicht daraus ableiten, dass eine andere Verrichtung im Bereich der Ernährung auf die „mundgerechte“ Zubereitung der Nahrung beschränkt ist.
Der Senat hätte wegen fehlender Tatsachenfeststellungen nicht entscheiden können, ob die Voraussetzungen der Pflegestufe II vorliegen und habe die Sache deshalb zurückverwiesen an das Berufungsgericht.
Was lernen wir daraus?
Die Entscheidung des BSG verdient Zustimmung.
Es besteht insbesondere kein Grund, eine bestimmte Maßnahme der Hilfe bei den Verrichtungen des § 14 Abs 4 SGB V bei der Bemessung des Pflegebedarfs für den Leistungsanspruch in der Pflegeversicherung unberücksichtigt zu lassen, nur weil diese Maßnahme zugleich der Krankenbehandlung dient. Im vorliegenden Fall ersetzte eine Behandlungsmaßnahme sogar die Katalogverrichtung des § 14 Abs. 4 Ziff. 2 SGB XI was besonders deutlich macht, dass die dabei erforderlichen Hilfeleistungen untrennbarer Bestandteil der Hilfe für die Katalogverrichtungen sind.