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Am 21.11.2018 hat der EuGH zu Az. C-29/17 entschieden, dass die Kostenübernahme eines Arzneimittels durch ein nationales Krankenversicherungssystem für eine Anwendung, die nicht von seiner Genehmigung für das Inverkehrbringen erfasst ist, nicht gegen das Unionsrecht verstößt. Jedoch müsse dieses Arzneimittel nach Ansicht des EuGH weiterhin mit dem Arzneimittelrecht der Union in Einklang stehen.

 Was ist passiert?

Für das Inverkehrbringen (Verkehrsgenehmigung) von Avastin, einem biotechnologischen Arzneimittel zur Behandlung verschiedener Arten von Krebs, besitzt die Gesellschaft Roche Italia (Roche) eine Genehmigung. Avastin wird allerdings häufig zur Behandlung einer Augenkrankheit, nämlich der altersbedingten Makuladegeneration (AMD), verschrieben. Diese Krankheit ist allerdings nicht von der Verkehrsgenehmigung für Avastin erfasst. Avastin muss für diese ophtalmologische Anwendung seiner Originalflasche entnommen und in Spritzen zur einmaligen intravitrealen Verwendung (Injektionen in das Auge) aufgeteilt werden.

Die Agenzia italiana del farmaco (italienische Arzneimittelagentur, AIFA) nahm im Jahr 2014 Avastin zur Behandlung der AMD in die Liste der Arzneimittel auf, deren Kosten durch den Servizio Sanitario Nazionale (Nationaler Gesundheitsdienst, Italien, SSN) erstattet werden können, sofern bestimmte Voraussetzungen eingehalten werden. Dazu gehört, dass

  • die Umverpackung von Avastin durch zugelassene Apotheken erfolgt und
  • die Patienten, denen die Krankenhäuser dieses umgepackte Arzneimittel verabreichen, angemessene Informationen u.a. über die Existenz therapeutischer Alternativen erhalten.

Zu den vorgenannten therapeutischen Alternativen zählt das speziell für die Behandlung der AMD zugelassene Lucentis. Dieses Arzneimittel wird von der Gesellschaft Novartis Farma (Novartis) vermarktet. Es hat zwar einen erheblich höheren Preis als Avastin, wird jedoch vom SSN erstattet. Den SSN kostet das für seine ophtalmologische Anwendung umgepackte Avastin 82 Euro, Lucentis 902 Euro je Dosis.

Die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Italienische Wettbewerbs- und Marktordnungsbehörde) verhängte im Jahr 2014 Strafen wegen Absprachen zwischen den Arzneimittelkonzernen Roche und Novartis, die darauf abzielten, die Zahl der ophtalmologischen Anwendungen des Arzneimittels Avastin zu verringern und die von Lucentis zu erhöhen. In seinem Urteil vom 23.01.2018 (C-179/16 „Hoffmann-La Roche“) hatte der EuGH festgestellt, dass diese Absprache eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung darstellen könnte. Novartis focht die Entscheidungen vor den italienischen Gerichten an und war der Auffassung, dass die Entscheidungen der AIFA die Anwendung von Avastin unter Voraussetzungen begünstigten, die nicht dem Inhalt seiner Genehmigung für das Inverkehrbringen entsprächen.

Der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) möchte in diesem Zusammenhang vom EuGH wissen, ob die nationalen Vorschriften, die die Voraussetzungen für die Anwendung von Avastin außerhalb seiner Verkehrsgenehmigung festlegen, die Zuständigkeit der AIFA für die Pharmakovigilanz in dieser Hinsicht und die – aus wirtschaftlichen Gründen vorgesehene – Kostenübernahme für das umgepackte Avastin durch den SSN mit dem Unionsrecht (RL 2001/83/EG – ABl. 2001, L 311, 67 in der durch die RL 2012/26/EU – ABl. 2012, L 299, 1 geänderten Fassung und Verordnung (EG) Nr. 726/2004) vereinbar sind.

Was sagt der EuGH dazu?

Nach der Entscheidung des steht die Richtlinie einer nationalen Regelung, die die Voraussetzungen festlegt, unter denen Avastin für die Zwecke seiner Anwendung zur Behandlung von nicht von seiner Verkehrsgenehmigung erfassten ophtalmologischen Indikationen umverpackt werden kann, nicht entgegen.

Die Zuständigkeit für die Organisation und die Verwaltung des Gesundheitswesens sowie für die Festsetzung der Arzneimittelpreise und deren Einbeziehung in den Anwendungsbereich der nationalen Krankenversicherungssysteme liegt nach Auffassung des EuGH bei den Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten müssten bei der Ausübung dieser Zuständigkeiten das Unionsrecht beachten.

Nach seiner Umverpackung falle auch Avastin gemäß den Vorschriften der italienischen Behörden in den Anwendungsbereich der RL 2001/83, die darauf abziele, dass dass gesamte Vertriebsnetz im Arzneimittelbereich von der Herstellung bzw. der Einfuhr in die EU bis hin zur Abgabe an die Öffentlichkeit einer Kontrolle unterliege.

Weder die Verschreibung eines Arzneimittels außerhalb seiner Verkehrsgenehmigung noch die Umverpackung des Arzneimittels zu diesem Zweck verbiete das Unionsrecht. Beides werde aber von der Einhaltung bestimmter Voraussetzungen abhängig gemacht, wozu auch die in der Richtlinie vorgesehene Verpflichtung zum Besitz einer Verkehrsgenehmigung und einer Herstellungserlaubnis gehören würden.

Die Umverpackung von Avastin für eine nicht von seiner Verkehrsgenehmigung gedeckte Anwendung erfordere jedoch keine neue Verkehrsgenehmigung, sofern dieser Vorgang i) nicht zu einer Veränderung des Arzneimittels führt, ii) durch einen Arzt mittels eines individuellen Rezepts verschrieben wird und iii) von zugelassenen Apotheken für die Verabreichung in Krankenhäusern vorgenommen wird (Umstände, die von den nationalen Gerichten zu prüfen sind). Auch sei keine neue Herstellungserlaubnis erforderlich, wenn Avastin auf der Grundlage eines individuellen Rezepts durch eine ordnungsgemäß hierzu ermächtigte Apotheke für seine Verabreichung in Krankenhäusern umgepackt werde (Umstände, die von den nationalen Gerichten zu prüfen seien).

Abschließend sei darauf hinzuweisen, dass sich das von der Verordnung Nr. 26/2004 vorgesehene Pharmakovigilanzsystem auch auf jede nicht von der Verkehrsgenehmigung gedeckte Anwendung eines Arzneimittels erstrecke. In Bezug auf ein biotechnologisches, also dem zentralisierten Verfahren unterliegendes Arzneimittel, werde die Pharmakovigilanz durch die zuständigen nationalen Behörden (wie die AIFA) und die Europäische Arzneimittelagentur (EMA), die deren Koordinierung sicherstellt, durchgeführt. Für die Genehmigung bestimmter Arzneimittel habe die Verordnung Nr. 726/2004 ein (auf Unionsebene) zentralisiertes Verfahren eingeführt, darunter solche, die aus bestimmten biotechnologischen Verfahren hervorgehen, sowie ein Pharmakovigilanzsystem auf Unionsebene für die im Wege des zentralisierten Verfahrens genehmigten Arzneimittel. Die Verordnung einer nationalen Maßnahme, die die AIFA dazu ermächtigt, Arzneimittel wie Avastin, für deren Anwendung außerhalb ihrer Verkehrsgenehmigung der SSN die Kosten übernehme, zu überwachen und ggf. erforderliche Maßnahmen zum Schutz der Patientensicherheit zu ergreifen, stehe daher nicht entgegen.

  

Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 181/2018 v. 21.11.2018 und Juris das Rechtsportal

Siehe auch: https://raheinemann.de/anspruch-gegen-krankenkasse-auf-versorgung-mit-cannabis/

 

RH