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SG Magdeburg, Beschl. v. 16. Februar 2007 – S 13 KR 17/07 ER

1. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG (Beschl. v. 06. Dezember 2005 – 1 BvR 347/98) sowie des Bundessozialgerichts (BSG, Urt. v. 04. April 2006 – B 1 KR 7/05 R) zu den so genannten neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden können die grundrechtlich schützenswerten Belange des Patienten, insbesondere sein Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), eine Kostentragungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für die Behandlung eines neuroendokrinen Karzinoms mit Dendritischen Zellen begründen.
2. Für die Behandlung eines neuroendokrinen Karzinoms mit Dendritischen Zellen besteht jedenfalls im Hinblick auf die im Rahmen des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gebotene summarische Prüfung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass ein Anspruch auf die entsprechende Krankenbehandlung besteht, wenn eine allgemein anerkannte, medizinischen Standards entsprechende Behandlung nicht mehr zur Verfügung steht und von den behandelnden Ärzten im Rahmen der Beweiserhebung des Gerichts Indizien und Hinweise für eine Wirksamkeit der Therapie vorgebracht werden. Die Anforderungen an das Vorliegen derartiger Indizien und Hinweise dürfen dabei nicht so hoch angesetzt werden wie beim Off-Label-Use, sodass im Einzelfall auch Expertenmeinungen ausreichend sein können.

(Leitsätze des Bearbeiters)

In dem vom Sozialgericht Magdeburg im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung entschiedenen Eilverfahren war die Antragstellerin an einem neuroendokrinen Karzinom des Mediastinums mit multifokaler Metastasierung erkrankt.

Nach zunächst erfolgter operativer Entfernung des Tumors und weiteren operativen Eingriffen wurde der Antragstellerin eine weitere Metastase entfernt. Bereits einen Monat später kam es jedoch zu einem Fortschreiten der Krebserkrankung u.a. mit cervikalen Lymphknoten-Metastasen beidseits. Daraufhin unterzog die Antragstellerin sich einer Chemotherapie. Die Chemotherapie musste aufgrund einer nebenwirkungsbedingten Schädigung des Knochmarks, die bereits lebensbedrohliche Ausmaße angenommen und eine stationäre Aufnahme der Antragstellerin auf der Intensivstation erforderlich gemacht hatte, bereits kurz nach Beginn abgebrochen werden.

Daraufhin beantragte die Antragstellerin bei ihrer Krankenkasse die Kostenübernahme für die Behandlung mit Dendritischen Zellen. Im Rahmen des Antrags wies die Antragstellerin u.a. darauf hin, dass bereits in mehreren hundert Fällen Tumorrückbildungen beobachtet werden konnten und die Wirkprinzipien sowohl wissenschaftlich basiert als auch publiziert seien. In klinischen Studien habe eine Wirksamkeit nachgewiesen werden können. Bei der begehrten Therapie mit Dendritischen Zellen sollten aus dem Blut der Antragstellerin Zellen gewonnen und in einem Labor unter Aufsicht und Leitung eines Arztes mit Tumorzellen zusammengebracht werden. Im Anschluss sollte die Injektion dieser hergestellten Zellen erfolgen. Hierdurch soll eine Immunantwort in Gang gesetzt werden, wodurch die Tumorzellen letztendlich zerstört werden sollen. Die Behandlung mit Dendritischen Zellen gehört nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Krankenkasse lehnte den Kostenübernahmeantrag ab. Zur Begründung führte sie an, dass für die Behandlung neben den bereits im Rahmen der Chemotherapie verwandten Medikamenten weitere Chemotherapeutika zur Verfügung stünden. Zudem handele es sich bei der Behandlung mit Dendritischen Zellen um eine Arzneimitteltherapie, der es mangels Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz an der erforderlichen Verkehrsfähigkeit fehle. Überdies bestünde eine völlig unzureichende Datenlage zur Wirksamkeit der begehrten Therapie.

Gegen den Bescheid erhob die Antragstellerin Widerspruch, den die Krankenkasse unter Wiederholung ihre Ausführungen im Ablehnungsbescheid zurückwies.

Sodann hat die Antragsstellerin beim Sozialgericht Magdeburg den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Das Gericht hat während des Verfahrens weitere, über die bereits mit der Antragsschrift vorgelegten hinausgehende, Befundberichte bei den behandelnden Ärzten eingeholt. Diese haben zum einen insbesondere ausgeführt, dass im Rahmen einer Publikation der Universität Düsseldorf über die Behandlung von Patienten mit neuroendokrinen Karzinomen mittels Dendritischer Zellen ein klinisches Ansprechen habe beobachtet werden können. Zudem bestünde auch keine Gefahr für das Knochenmark und es würden nahezu alle Tumorarten auf eine Behandlung mit Dendritischen Zellen ansprechen. Zum anderen seien andere konservative Chemotherapien wissenschaftlich nicht zu begründen, da insoweit keine Studien vorlägen. Die Wahrscheinlichkeit des Ansprechens einer Chemotherapie sei zudem nicht sehr hoch und die Behandlung mit Dendritischen Zellen sei durchaus Erfolg versprechend.

Mit seinem Beschluss hat das Sozialgericht Magdeburg die Krankenkasse vorläufig bis zur Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache zur Übernahme der Kosten für die begehrte Behandlung mit Dendritischen Zellen verpflichtet.

Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass unter Berücksichtung der Rechtsprechung des BVerfG zu außervertraglichen Behandlungsmethoden bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung (BVerfG, Beschl. v. 06. Dezember 2005 – 1 BvR 347/98) nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für ein Bestehen eines Anspruchs auf eine entsprechende Krankenbehandlung gemäß § 21 Abs. 1 SGB I besteht. Zwar sei bei den – wie hier in Rede stehenden – so genannten neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden die Vorschrift des § 135 Abs. 1 SGB V zu beachten, die eine Art Verbot mit Erlaubnisvorbehalt vorsehe und so die Erbringung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen solange ausgeschlossen, bis die Behandlung vom Gemeinsamen Bundesausschuss als zweckmäßig anerkannt sei. Doch greife hier ein Ausnahmetatbestand. Es liege nämlich eine lebensbedrohliche Erkrankung vor, für die eine allgemein anerkannte, medizinischen Standards entsprechende Behandlung nicht mehr zur Verfügung stehe. Auch könne die Antragstellerin nicht auf die Behandlung mit den weiteren von der Krankenkasse benannten Chemotherapeutika verwiesen werden.

Den hierzu von der Krankenkasse erhobenen Einwand, sie sei nicht verpflichtet, für experimentelle Studien aufzukommen, ließ das Gericht nicht gelten. Für die Behandlung der konkret vorliegenden Tumorentität lägen – dies war insoweit unstreitig – keine Daten vor, so dass sich die Frage stelle, ob diese Behandlung dann nicht ebenso experimentell sei. Ferner sei weder aus den Bescheiden noch aus dem von der Krankenkasse eingeholten Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) zu erkennen, worauf die Krankenkasse ihre Aussage stütze, es gäbe noch weitere Chemotherapeutika. Sowohl aus den Angaben des MDK als auch den glaubhaften Angaben der befragten Ärzte ergebe sich jedenfalls, dass es für das metastasierende neuroendokrine Karzinom keine zugelassenen Zytostatika gibt.

Der Antragstellerin sei des Weiteren aufgrund der lediglich mit äußerst fraglichem Erfolg durchgeführten ersten Chemotherapie ein weiterer Versuch nicht zuzumuten. Es bestünden jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass Nebenwirkungen einer anderen als der bereist versuchten Chemotherapie nicht auftreten würden oder zumindest geringer ausfallen würden. In die Gefahr erneuter schwerster Nebenwirkungen durch nicht für ihre Erkrankung etablierte Chemotherapien müsse die Antragstellerin sich jedenfalls dann nicht begeben, wenn – wie hier – eine andere Therapie mit wesentlich geringeren Nebenwirkungen vorhanden ist.

Schließlich, so das Gericht, sei vom Bestehen einer auf Indizien gestützten, nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf Heilung oder zumindest eine spürbar positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf auszugehen. Dabei seien auch nicht hohen Anforderungen für den so genannten Off-Label-Use in Form des Vorliegens von Forschungsergebnissen zu stellen, sondern es genügten eben bereits Indizien und Hinweise. Diese Indizien und Hinweise hat das Gericht insbesondere auf Grund der von der behandelnden Ärzten eingeholten Stellungnahmen als gegeben angesehen. Diese lieferten genügend Hinweise, die geeignet seien, den eher weit gefassten Anforderungen des BVerfG gerecht zu werden. Zudem sei zu berücksichtigen gewesen, dass es sich vorliegend um einen seltene Tumorart handele, bei der es nicht ganz einfach sei, große, aussagekräftige Studien zu führen. Deshalb könnten im Einzelfall auch Expertenmeinungen ausreichend sein.

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