SG Berlin, Urt. v. 27. April 2011 – S 73 KR 135/10
Der Schiedsspruch vom 21. Dezember 2009 zur Festsetzung des Apothekenabschlags 2009 enthält gravierende Mängel. Er wird aufgehoben. Die beklagte Schiedsstelle für Arzneimittelversorgung und Arzneimittelabrechnung wird zur Neuentscheidung verurteilt. Sie hat bei ihrer Entscheidung die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums verletzt. Insbesondere hat sie sich nicht mit dem Umstand befasst, dass den gestiegenen Personal- und Sachkosten der Apotheken ein deutlich gestiegener Umsatz gegenüberstand.
In der ersten Instanz endete der 640 Millionen-Streit um den Apothekenabschlag 2009 mit einem Erfolg für den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband). Nachdem sich die Krankenkassen und der dem Gerichtsverfahren beigeladene Deutsche Apothekerverband (DAV) in ihren Verhandlungen nicht hatten einigen können, war der von den Apotheken an die Kassen zu entrichtende Abschlag für 2009 von der Schiedsstelle auf 1,75 Euro pro Packung festgesetzt worden. Der für 2008 vom Gesetzgeber festgelegte Abschlag hatte demgegenüber 2,30 Euro betragen. Die Krankenkassen hatten daraufhin Einnahmeverluste von rund 320 Millionen Euro jährlich geltend gemacht und am 21. Januar 2010 gegen die Schiedsstelle Klage erhoben. Durch die Entrichtung eines packungsbezogenen Abschlags sollen die Apotheken nach dem Willen des Gesetzgebers ihren Anteil zur Kosteneinsparung im der gesetzlichen Krankenversicherung leisten.
Nach Auffassung des Gerichts hält der Schiedsspruch einer rechtlichen Prüfung nicht stand: Der Schiedsspruch verletzt den vom Gesetzgeber für die Anpassung des Apothekenabschlags vorgegebenen Bewertungsmaßstab, wonach es entscheidend darauf ankommt, dass die Summe der Vergütungen für die Leistungen aller Apotheken bei der Abgabe von verschreibungspflichtigen Medikamenten leistungsgerecht ist. Es ist ein gravierender Fehler der Schiedsstelle gewesen, nur die gestiegenen Personal- und Sachkosten der Apotheken zu berücksichtigen, nicht aber auch die Steigerung der Einnahmen durch vermehrte Packungsverkäufe.
Die Schiedsstelle ist davon ausgegangen, dass den Apotheken aufgrund eines Personalzuwachses von 2,38 % (3.154 Mitarbeiter) zwischen April 2007 und Dezember 2008 zusätzliche Kosten entstanden sind. Diesen Personalzuwachs hat die Schiedsstelle allein auf einen erhöhten Beratungsbedarf in den Apotheken zurückgeführt. Sie hat dabei – so das Gericht – in fehlerhafter Weise nicht berücksichtigt, dass im gleichen Zeitraum auch der Umsatz verkaufter Packungen um 5,69 % gestiegen ist. Es ist vor diesem Hintergrund nicht schlüssig, den Personalmehrbedarf nicht auch in Beziehung zum erhöhten Verkaufsaufwand zu setzen.
Die von der Schiedsstelle angenommenen Gesamtkostensteigerungen sind im Übrigen nach Auffassung des Gerichts vollständig von den Erlössteigerungen gedeckt gewesen. Der Umsatz verkaufter verschreibungspflichtiger Fertigarzneimittel wirkt sich dabei wegen des sogenannten Apothekenzuschlags unmittelbar auf den eigentlichen Erlös der Apotheken aus. Den gesetzlich vorgeschriebenen Apothekenzuschlag erhalten die Apotheken zur Deckung ihrer Sach- und Personalkosten und zur Erzielung von Gewinn für die Abgabe jeder Packung eines verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittels. Der Zuschlag setzt sich aus einer dynamischen Komponente von 3 % des Einkaufspreises und einem fixen Betrag von 8,10 Euro zusammen.
Angesichts der im Verhältnis zur Umsatzsteigerung relativ geringen Kostensteigerung hat es sich der Schiedsstelle aufdrängen müssen, dass eine Absenkung des Abschlags um 24 % gegenüber 2008 den gesetzlichen Rahmen verlässt. Mit Blick auf die Erhöhung des Umsatzes wäre eine Absenkung des Abschlags nur in deutlich geringeren Umfang gerechtfertigt gewesen.
Bei der erforderlichen Neuentscheidung muss die Schiedsstelle insbesondere die notwendige umfassende Bewertung der Leistungsgerechtigkeit im Blick behalten. Sie ist dabei – so das Gericht – nicht daran gehindert, eine Absenkung des Abschlags zu erwägen, denn angesichts des erhöhten Umsatzes würde der vom Gesetzgeber mit dem Apothekenabschlag bezweckte Einspareffekt auch mit einem reduzierten Abschlagsbetrag erreicht werden. Die bisher von der Schiedsstelle angewandte Berechnungsmethode ist angesichts deutlicher Umsatzzuwächse allerdings ohne zusätzliche umfassende Bewertung des Verhältnisses von Umsatzerlösen und Gewinnen nicht geeignet, den Abschlag für 2009 im Verhältnis zu 2008 zu reduzieren.
Abgewiesen hat das Gericht den zweiten Teil der Klage, mit dem die Krankenkassen gerichtlich feststellen lassen wollten, dass der Schiedsspruch nur das Jahr 2009 betreffe und bei der Anpassung für 2010 wieder vom gesetzlichen Wert für 2008 auszugehen sei. Für diese Feststellungsklage fehlt nach Meinung des Gerichts das Rechtsschutzbedürfnis: Hinsichtlich des Apothekenabschlags 2010 ist die Schiedsstelle bisher noch gar nicht angerufen worden. Die Festlegung des Apothekenabschlags 2010 fällt damit noch in die alleinige Verhandlungshoheit des GKV-Spitzenverbands und des DAV. Das Gericht ist nicht befugt, einzelne Verhandlungselemente vorab festzulegen.
Nachdem in der Sache bereits am 9. März 2011 eine mündliche Verhandlung stattgefunden hatte, hat das Gericht unter Vorsitz von Richter am Sozialgericht Gunter Rudnik in der Besetzung mit zwei ehrenamtlichen Richtern am 27. April 2011 ohne weitere mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entschieden.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das Gericht hat die Revision zugelassen. Gegen das Urteil kann also nicht nur das Landessozialgericht, sondern auch unmittelbar das Bundessozialgericht angerufen werden.
(Quelle: Pressemitteilung des SG Berlin vom 03. Mai 2011)