BSG, Urt. v. 22. Juli 2004 – B 3 KR 21/03 R
Klinische Studien zur Erprobung von noch nicht zugelassenen Arzneimitteln sind als Krankenhausbehandlung von den Krankenkassen in der Regel nicht zu vergüten.
(Amtlicher Leitsatz)
Der Hintergrund:
Das klagende Krankenhaus hatte während der stationären Behandlung mehrerer Versicherter, die Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse waren, eine Arzneimittelstudie in Form einer so genannten Placebo-kontrollierten Doppelblindstudie mit einem in Deutschland nicht zugelassenen Medikament durchgeführt.
Nachdem die beklagte Krankenkasse zunächst die der Gesamtdauer der stationären Krankenhausaufenthalte entsprechenden Pflegesätze gezahlt hatte, forderte sie auf Grundlage eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung die Erstattung von Pflegesätzen. Zur Begründung wurde angegeben, dass Maßnahmen der Arzneimittelstudien im Vordergrund gestanden hätten.
Der Kläger lehnte es ab, dem Rückforderungsverlangen nachzukommen. Aufgrund dessen kürzte die Beklagte die noch offenen laufenden Krankenhausrechnungen entsprechend.
Das Krankenhaus begehrte die Zahlung der einbehaltenen Beträge.
Die Entscheidung:
Das BSG hat die Klage abgewiesen.
Nach Ansicht des Gerichts bestand kein Zahlungsanspruch des Krankenhauses gegen die beklagte Krankenkasse. Vielmehr sei die Bezahlung der Rechnungen ohne rechtlichen Grund erfolgt. Deshalb habe die Krankenkasse unter dem Gesichtspunkt des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs zu Recht die Rückzahlung begehrt und sei auch befugt gewesen, mit dem Rückzahlungsanspruch gegen spätere Forderungen des Krankenhauses aufzurechnen.
1. Zur Begründung im Einzelnen hat das Gericht zunächst ausgeführt, dass der Zahlungsanspruch des Krankenhauses mit dem Anspruch des Versicherten auf Krankenhausbehandlung aus § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V korrespondiert.
Die Leistungspflicht der Krankenkasse bestehe aber nicht uneingeschränkt. Vielmehr werde der Sachleistungsanspruch des Versicherten von zwei Seiten begrenzt: einerseits müssten Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) und andererseits setze das Wirtschaftlichkeitsgebot Grenzen hinsichtlich der Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Notwendigkeit der Leistungen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
Der Gesetzgeber habe an verschiedenen Stellen die Beteiligung der gesetzlichen Krankenkassen an der Entwicklung neuer Behandlungsmethoden vorgesehen. Dies führe dazu, dass der Leistungspflicht nicht mit dem bloßen Verweis, die Studie entspreche nicht dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, begegnet werden könne.
So sei insbesondere in § 137c Abs. 2. S. 2 2. Hs. SGB V ausdrücklich festgelegt, dass die Durchführung klinischer Studien von den gemäß § 137c Abs. 1 S. 1 SGB V vorgesehenen Verfahren zur Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden unberührt bleibe. Für Studien im Sinne dieser Vorschrift seien somit die Entgelte für die allgemeinen Leistungen des Krankenhauses gemäß § 8 Abs. 1 S. 2 KHEntgG zu entrichten.
Aber der Anwendungsbereich der Vorschrift des § 137c Abs. 2. S. 2 2. Hs. SGB V beschränke sich ausschließlich auf Studien über neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden – und nicht auch Studien mit noch nicht zugelassenen Arzneimitteln.
Eine Doppelblindstudie, so das Gericht weiter, sei nicht unter den Begriff der Untersuchungs- und Behandlungsmethode zu fassen.
Gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2g des Arzneimittelgesetzes (AMG) dürften Arzneimittel, die zur klinischen Prüfung bestimmt sind, nur an Krankenhäuser und Ärzte abgegeben werden dürfen, wenn sie kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Daraus sei zu ersehen, dass solche Studien nicht von den gesetzlichen Kostenträgern zu finanzieren sein sollen. Ferner mache der in § 63 Abs. 4 S. 2 SGB V normierte Ausschluss von Forschungen zur Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln von Modellvorhaben deutlich, dass der Gesetzgeber jedenfalls dann keine Durchbrechung des Grundsatzes des Verbots der Forschungsfinanzierung zulassen wolle, wenn die Forschungsergebnisse für Pharmahersteller von Nutzen sein könne. Des Weiteren würde klinische Forschung im Arzneimittelbereich primär durch die pharmazeutische Industrie bzw. auf deren Veranlassung erfolgen. Da sich die Unternehmen dabei regelmäßig auf ihnen Erfolg versprechend erscheinende und wirtschaftlich interessant erscheinende Gebiete konzentrieren würden, sei eine finanzielle Beteiligung der Krankenkassen nicht geboten. Die Unternehmen könnten vielmehr die aufgewandten Kosten über die Arzneimittelpreise kompensieren.
Auch aus den Vorschriften in §§ 40, 41 AMG ergebe sich keine Kostentragungspflicht der Beklagten. Aufgrund der unterschiedlichen Zielrichtungen des Arzneimittelrechts und des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung verbiete sich eine Schlussfolgerung von der Zulässigkeit eines Arzneimittelversuchs auf eine Finanzierungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen. Das AMG regele nur, in welchen Bahnen sich der medizinische Fortschritt zu bewegen hat, wohingegen die Frage der Finanzierung im Gesetz offen bleibt.
Aus alledem ergebe sich schließlich, dass die stationäre Krankenhausbehandlung nicht von gesetzlichen Krankenkassen zu vergüten ist, solange sie der klinischen Prüfung eines nicht zugelassenen Arzneimittels dient.
2. Auch wenn die Beklagte mit der von ihr vorgenommenen „Kürzung“ nicht ausdrücklich erklärt habe, gegen eine bestimmte Forderung des Krankenhauses aufzurechnen, so genüge dies für eine wirksame Aufrechnung. Entscheidend sei einzig, dass der Aufrechnungswille auf Seiten des Aufrechnenden hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht worden sei. Dem sei dadurch Genüge getan, dass aktuelle Forderungen des Krankenhauses in Höhe der gekürzten Beträge zum Erlöschen gebracht werden sollten.
Konsequenzen für die Praxis:
Wesentliche praktische Folge der Entscheidung des Gerichts ist, dass für die stationäre Behandlung gesetzlich versicherter Patienten im Rahmen von klinischen Studien von den Krankenhäusern keine Entgelte bei den Krankenkassen (mehr) gefordert werden können.
Zugleich dürfte zu erwarten sein, dass die Krankenkassen in der Vergangenheit gleichwohl gezahlte Entgelte von den Krankenhäusern zurückfordern bzw. entsprechende Rechnungskürzungen vornehmen werden. Der mögliche Einwand, die in der Kürzung zu sehende Aufrechnungserklärung sei nicht hinreichend bestimmt, wird vor dem Hintergrund des Urteils schwerlich aufrecht zu erhalten sein.
(OB/LH)