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Sächsisches Landessozialgericht, Urteile vom 16. Mai 2012 – L 1 KR 115/10, L 1 KR 112/10, L 1 KR 113/10, L 1 KR 114/10, L 1 KR 116/10 (nicht rechtskräftig)

Die Einleitung einer MDK-Prüfung nach § 275 Abs. 1 SGB V hemmt in analoger Anwendung des § 204 Abs. 1 Nr. 8 BGB die Verjährung eines Rückzahlungsanspruchs einer Krankenkasse gegen ein Krankenhaus.

Was war passiert?
Die Klägerin betreibt ein Krankenhaus. Darin wurden im Jahre 2004 Versicherungsnehmer der beklagten Krankenkassen stationär behandelt. Dafür rechnete die Klägerin aufgrund der von ihr ermittelten Fallpauschalen (DRGs) ab. Sie kodierte jeweils eine Haupt- und eine oder mehrere Nebendiagnosen; so für die von ihr in einem Fall in Rechnung gestellte DRG F60A beispielsweise einen akuten Myokardinfarkt als Hauptdiagnose (ICD-10 I29.9) und als Nebendiagnosen u.a. einen Pleuraerguss (ICD-10 J90) und eine akute Bronchitis (ICD-10 J20.9).

Im Oktober 2008 zeigte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) gegenüber der Klägerin eine Überprüfung der Kodierung der Nebendiagnosen an und bat um Übersendung der Behandlungsunterlagen. Nach deren Überprüfung kam der MDK in seiner gutachterlichen Stellungnahme im Jahr 2009 zu dem Ergebnis, dass die Codes für die Nebendiagnosen entfallen müssten. Die Beklagten teilten deshalb mit, dass die Klägerin entsprechend der gutachterlichen Stellungnahme mit anderen, geringer vergüteten Fallpauschalen abzurechnen habe; im erwähnten Fall sei zum Beispiel mit der Fallpauschale F60B an Stelle von F60A abzurechnen. Wegen der Differenzbeträge kündigten die Beklagten die Verrechung mit laufenden Behandlungsfällen an.

Nach erfolgter Verrechnung erhob die Klägerin Klagen vor dem SG Leipzig auf Zahlung dieser Differenzbeträge. Nach Ansicht der Klägerin waren die von der Beklagten geltend gemachte Rückzahlungsansprüche im Zeitpunkt der Verrechnung verjährt.

Gegen die klageabweisenden Urteile des SG Leipzig richtet sich die Berufung der Klägerin vor dem Landessozialgericht.

Was sagt das Landessozialgericht dazu?
Die Chemnitzer Richter am Landessozialgericht Sachsen haben die Berufung für unbegründet erachtet.

Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zahlung der Differenzbeträge. Die Beklagten hätten entsprechend §§ 387 ff. BGB aufrechnen dürfen.

Zwar wäre die Verjährungsfrist für den Rückzahlungsanspruch am 31. Dezember 2008 abgelaufen. Allerdings sei die Verjährung vorliegend nach § 275 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 204 Abs. 1 Nr. 8 BGB analog durch die Einleitung des MDK-Begutachtungsverfahrens gehemmt worden.

Gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 8 BGB wird die Verjährung durch den Beginn eines vereinbarten Begutachtungsverfahrens gehemmt. Zwischen den Beteiligten des Rechtsstreits gab es für den streitgegenständlichen Zeitraum keine individual- oder kollektivrechtliche Vereinbarung in Bezug auf ein Gutachterverfahren.

Die Vorschrift des § 204 Abs. 1 Nr. 8 BGB ist nach Ansicht des Gerichts jedoch der Analogie zugänglich und vorliegend auch entsprechend anzuwenden. Normzweck des § 204 BGB sei es, den Gläubiger davor zu schützen, dass sein Anspruch verjährt, obwohl er ein förmliches Verfahren mit dem Ziel der Durchsetzung seines Anspruchs eingeleitet hat. Mit einem „vereinbarten Begutachtungsverfahren“ im Sinne von § 204 Abs. 1 Nr. 8 BGB weise die MDK-Prüfung nach § 275 Abs. 1 SGB V so viele Ähnlichkeiten auf, dass eine Analogie gerechtfertigt sei.

Die Urteile sind nicht rechtkräftig. Die Revisionsverfahren sind zu
– B 3 KR 31/12 R (L 1 KR 115/10),
– B 1 KR 59/12 R (L 1 KR 112/10),
– B 3 KR 30/12 R (L 1 KR 113/10),
– B 1 KR 60/12 R (L 1 KR 114/10) und
– B 1 KR 61/12 R (L 1 KR 116/10)
beim Bundessozialgericht in Kassel anhängig.

Was lernen wir daraus?
Nach diesem Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts wird die Verjährung auch dann analog § 204 Abs. 1 Nr. 8 BGB gehemmt, wenn kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist eine Überprüfung durch den MDK eingeleitet wird. Dies haben andere Sozialgerichte als treuwidrig angesehen und eine Hemmung der Verjährung abgelehnt, so zum Beispiel das SG Frankfurt in seinem Urteil vom 29. März 2011 – S 27 KR 74/09.

Für die Annahme einer solch schwerwiegenden Pflichtverletzung, die den Vorwurf rechtsmissbräuchlichen Handelns rechtfertigt, genügt dem Sächsischen Landessozialgericht zufolge jedoch nicht die Tatsache, dass die Beklagten erst kurz vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist in der Lage waren, eine Prüfung durch den MDK einzuleiten.

Es bleibt daher die höchstrichterliche Klärung dieser Rechtsfrage durch das Bundessozialgericht abzuwarten. Abrechnende Krankenhäuser sollten in Bezug auf ein bestehendes Prozessrisiko nicht auf den Ablauf der Verjährung vertrauen.
(RH/LHW)