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SG München, Beschl. v. 27. Januar 2010 – S 29 P 24/10 ER

1.) Da § 115 Abs. 1a SGB XI als Zielgruppe für die Veröffentlichung der Transparenzberichte ausdrücklich die „Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen“ nennt, verstößt eine allgemeine Freigabe gegen das Gesetz.
2.) Die Regelung in § 115 Abs. 1a SGB XI erfüllt nicht den für Grundrechtseingriffe in die Berufsfreiheit geltenden Vorbehalt des Gesetzes.
3.) Die Ermächtigung aus § 115 Abs. 1a S. 6 SGB XI entspricht weder hinsichtlich der Ermächtigungsadressaten noch des Bestimmtheitsgebots den Anforderungen aus Art. 80 GG.

(Leitsätze des Bearbeiters)

Der Fall:
Die Antragstellerin, Trägerin einer ambulanten Pflegeeinrichtung, wandte sich gegen vorgesehen Veröffentlichung eines so genannten Transparenzberichts gemäß § 115 Abs. 1a SGB XI im Internet. Die Veröffentlichung hatten die Antragsgegner, die Landesverbände der Pflegekassen im Freistaat Bayern, für den 1. Februar 2010 vorgesehen.

Die Einrichtung der Antragstellerin war am 28. August 2009 einer Qualitätsprüfung nach §§ 114 ff. SGB XI durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) unterzogen worden. Im Rahmen der Prüfung bewertete der MDK sämtliche Prüffelder einschließlich der Gesamtnote mit „mangelhaft“ – jedoch wurde bei der Befragung der Kunden die Note „sehr gut“ ermittelt.

Mit Email vom 28. Dezember 2009 hatte der in dieser Sache federführende Landesverband AOK-Bayern der Antragstellerin mitgeteilt, dass nunmehr die Ergebnisse der Prüfung vorlägen und für die Antragstellerin einsehbar seien. Der Transparenzbericht werde spätestens 28 Tage nach dem ersten Entwurf veröffentlicht. Die Antragstellerin wurde aufgefordert, der Antragsgegnerin alle Informationen und Unterlagen spätestens innerhalb dieser 28 Tage zur Verfügung zu stellen. Außerdem wurde ihr die Möglichkeit eingeräumt, zu dem Prüfergebnis einen Kommentar abzugeben. Dieser durfte maximal 3.000 Zeichen inklusive Leerzeichen nicht überschreiten. Die von der Antragstellerin gelieferten Daten würden durch die Landesverbände der Pflegekassen aufbereitet und allen Veröffentlichungsstellen zur Verfügung gestellt. Nach erfolgter Freigabe sei eine weitere Bearbeitung der Daten nicht mehr möglich. Eine Rechtsmittelbelehrung enthielt die E-Mail nicht.

Mit Schreiben der Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassenverbände in Bayern, bearbeitet durch das Arge-Mitglied AOK Bayern, Die Gesundheitskasse, vom 8. Januar 2010 erfolgte außerdem eine Anhörung der Antragstellerin zu einem geplanten Maßnahmebescheid im Sinne von § 115 Abs. 2 SGB XI.

Die Antragstellerin hat den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragt, die den Antragsgegnern die Veröffentlichung des Transparenzberichts untersagt. Sie hat dazu geltend gemacht, der Transparenzbericht beruhe zumindest teilweise auf einer fehlerhaften Beurteilung durch den MDK und sei inhaltlich falsch sei. Zudem könnten die Qualitätsrichtlinien wegen unzulässiger Eingriffe in die Grundrechte keinen Bestand haben.

Die Entscheidung:
Das Sozialgericht München hat dem Antrag stattgegeben und eine Veröffentlichung vorläufig untersagt.

1.) Ein Anordnungsanspruch bestehe, weil das derzeitige Prüfverfahren den gesetzlichen Vorschriften weder generell noch im Einzelfall entspreche.

Es bestünden derzeit keine validen Kriterien für die Beurteilung insbesondere der „Lebensqualität“ in den zu prüfenden Einrichtungen. Es werde vielmehr in der Pflegetransparenzvereinbarung sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Vereinbarung in dem Wissen geschlossen worden ist, „dass es derzeit keine pflegewissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über valide Indikatoren der Ergebnis- und Lebensqualität der pflegerischen Versorgung in Deutschland gibt“. Die Transparenzvereinbarung sei deshalb als vorläufig zu betrachten und diene der vom Gesetzgeber gewollten schnellen Verbesserung der Transparenz für die Verbraucher. Der Gesetzgeber selbst geht ebenfalls davon aus, dass entsprechende Indikatoren noch ermittelt werden müssen. Er weist auf ein geplantes wissenschaftliches Projekt unter Beteiligung des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hin (Bundestagsdrucksache 16/7439, Seite 89).

Wenn derzeit keine Kriterien für die Beurteilung insbesondere der Lebensqualität in den zu prüfenden Einrichtungen vorhanden sind, können, so das Sozialgericht München, entsprechende Prüfberichte nicht in gesetzeskonformer Art und Weise durch nachvollziehbare Ausfüllung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 115 Abs. 1 a SGB XI erstellt werden.

Darüber verstoße die von den Antragsgegnern vorgesehene allgemeine Freigabe der Daten im Internet oder anderen Medien auch gegen den Sicherstellungsauftrag der Antragsgegner. Der Gesetzeswortlaut des § 115 Abs. 1a SGB XI lege als Zielgruppe eindeutig „die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen“ fest. Für diese – und zwar nur für diese! – seien kostenfreie Veröffentlichungen sowohl im Internet als auch in anderen geeigneten Formen in verständlicher, übersichtlicher und vergleichbarer Form sowohl vorgesehen.

Technisch ausgefeilte Verfahren, die sicherstellen würden, dass nur diese Zielgruppe die Informationen erhält, bestünden im Internet zuhauf. Fast jeder kommerzielle Internet-Anbieter benutze inzwischen das Verfahren der Registrierung mit Zugangscode. Dies stelle eine erprobte Möglichkeit dar, die zweifellos auch im Rahmen von § 115 Abs. 1a SGB XI so spezifisch gestaltet werden könne, das nur Pflegebedürftige (zur Legaldefinition: § 14 SGB XI) und ihre Angehörigen Zugang erhalten. Eine nicht zielgruppengeschützte Aufnahme ins Internet verstoße gegen § 115 Abs. 1a SGB XI und verletze die Antragstellerin ebenfalls in ihrem Recht, nur gesetzeskonforme Veröffentlichungen dulden zu müssen.

Das vorgehend Erörterte werfe aber auch generell die Frage auf, ob durch das vorliegende Prüfungsverfahren die Antragstellerin in ihren Grundrechten verletzt sei, was ebenfalls einen entsprechenden vorbeugenden Unterlassungsanspruch begründen könne.

Betroffen werden könne kann vor allem die Freiheit der Berufsausübung gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG, möglicherweise die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG – sofern man das „Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ davon umfasst sehe – sowie ggf. die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG.

Die Veröffentlichung von wissenschaftlich erwiesenen Tatsachenfeststellungen, die keinerlei Wertungscharakter aufweisen, beeinträchtigen zwar den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich der betroffenen Wettbewerber insbesondere aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht (BVerfG, Beschl. v. 26. Februar 2002 – 1 BvR 558/91), die vorliegenden Prüfungen im Pflegebereich beruhen aber in hohem Maße auf subjektiven Werturteilen der Prüfer und auch das Verhältnis, in dem die Einzelnoten zueinander stehen bzw. welche Fragen überhaupt geprüft werden und damit die Gesamtnote beeinflussen, beruht auf Wertentscheidungen der Konzepteure des Prüfverfahrens. Staatliche Informationstätigkeit könne sehr wohl eine Beeinträchtigung im Gewährleistungsbereich des Grundrechts auslösen, wenn sie in der Zielsetzung und ihren Wirkungen Ersatz für eine staatliche Maßnahme ist, die als Grundrechtseingriff zu qualifizieren wäre.

Vorliegend stehe – abgesehen von der Eigentumsgarantie und der allgemeinen Handlungsfreiheit – im Rahmen vonArt. 12 GG nicht nur eine reine Berufsausübungsregelung infrage, sondern eine – schärfer zu beurteilende – Berufswahl- bzw. Berufsenderegelung, denn die Auswirkungen auf die Antragsgegnerin können – selbst wenn man sie grundsätzlich ihrer Art nach als bloße Ausübungsregelung einstufen will – durch die immense Öffentlichkeitswirkung des Internets so gravierend und existenzvernichtend sein, dass sie zur Berufsaufgabe zwingen können.

Im Rahmen der damit hier im summarischen Erkenntnisverfahren anzunehmenden Grundrechtseingriffe sei es sehr fraglich, ob die Regelung in § 115 Abs. 1a SGB XI den für Grundrechtseingriffe geltenden Vorbehalt des Gesetzes erfüllt, der für Eingriffe in die Berufsfreiheit verlangt wird.

Die Ermächtigung aus § 115 Abs. 1a S. 6 SGB XI unterliege darüber hinaus aus Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG verfassungsrechtlichen Bedenken.

Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG ermögliche eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen seitens des Bundesgesetzgebers nur auf die Bundesregierung, die Bundesminister oder die Landesregierungen. Die in § 115 Abs. 1a S. 6 SGB XI genannten Körperschaften sehe das Grundgesetz als Delegationsadressaten hingegen gerade nicht vor. Außerdem kenne Art. 80 GG nur die Delegation zum Erlass von Normen in der Form der Rechtsverordnung, nicht aber die Delegation zur Schaffung von anderen hoheitlichen Eingriffsregelungen.

Der Gesetzgeber selbst ermächtige die Landesverbände der Pflegekassen zur Veröffentlichung von Prüfungsergebnissen in § 115 Abs. 1a Sätze 1 bis 4 SGB XI nur in allgemeinster Form, ohne insbesondere für die Vergabe von Noten auch nur die Grundzüge zu regeln. Bezüglich der „Kriterien der Veröffentlichung einschließlich der Bewertungssystematik“ beschränke sich der Gesetzgeber in § 115 Abs. 1a S. 6 SGB XI darauf, die dort genannten Körperschaften zur Schaffung einer Regelung im Wege einer Vereinbarung zu ermächtigen. Damit seien auch die Kriterien aus Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG (Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung müssen im Gesetz bestimmt werden) nicht erfüllt.

Satzungen im Rahmen der Selbstverwaltungsautonomie von juristischen Personen des öffentlichen Rechts bzw. auch eventuell Gewohnheits- und Richterrecht kämen zwar zur Erfüllung des Vorbehalt des Gesetzes auch in Betracht. Diese Varianten entsprächen aber nicht der in § 115 Abs.1a S. 6 SGB XI enthaltenen Ermächtigung.

Die in § 115 Abs. 1a SGB XI getroffene Regelung verstoße auch gegen die sowohl aus dem Demokratie- (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) als auch das dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Wesentlichkeitstheorie, wonach der Gesetzgeber im grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat. Deshalb hätte der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen des Prüf- und Bewertungsverfahrens im Rahmen eines formellen Gesetzes selbst regeln müssen. Dazu gehören beispielsweise neben Fragen, wie das Notensystem gestaltet wird, Kriterien, wie einzelne Tatbestandsmerkmale (zum Beispiel die „Lebensqualität“) sich inhaltlich darstellen (Legaldefinition) und wie entsprechende Sachverhalte gewonnen werden sollen (durch Befragungen der Bewohner oder – eventuell kumulativ – durch andere objektivere Verfahren).

2.) Ein Anordnungsgrund sei ebenfalls gegeben

Die im Rahmen des § 86b Abs. 2 S. 2 SGG vorzunehmende Interessenabwägung führe zu dem Ergebnis, die Veröffentlichung vorerst zu untersagen. Denn die ganz erheblichen Schäden, die der Antragstellerin in dem Fall drohen, dass die Veröffentlichung erfolgt, obwohl sie rechtswidrig ist, stünden in keinem Verhältnis zu möglichen Gefahren für die Allgemeinheit für den Fall, dass die Veröffentlichung vorerst unterbleibt, obwohl sie rechtmäßig ist. Der Antragstellerin drohe einmal durch die teilweise sehr schlechten Einzelnoten ein deutlicher, wenn nicht gar dramatischer Rückgang an Pflege-Interessenten und damit im schlimmsten Fall der wirtschaftliche Ruin. Es wäre nach dem zur Veröffentlichung vorgesehenen Gesamtergebnis (mangelhaft) und insbesondere den jeweils mangelhaften Einzelleistungen bei Pflege, ärztlich verordneten pflegerischen Leistungen und Dienstleistung und Organisation (Noten zwischen 4,5 und 5,0) trotz einer – demgegenüber nicht nachvollziehbaren – Note von 1,0 (sehr gut) bei der Befragung der Kunden zu erwarten, dass die Antragstellerin praktisch keine neuen Kunden mehr werben kann und auch ganz erheblich der vorhandene Kundenbestand abnimmt.

Darüber hinaus sei die besondere Dynamik des Internets zu beachten. Daten, die dort – zumal ohne jede Begrenzung des Benutzerkreises – eingestellt werden würden, könnten in keinster Weise mehr kontrolliert werden. Erfahrungsgemäß tauchten sie dann in allen möglichen Internet-Foren weltweit auf, ohne dass sie dort tatsächlich wieder komplett entfernt werden könnten.

Daran änderten auch vorgesehene Kommentierungen durch die Antragstellerin nichts, weil sie zwar – wohl nach entsprechender Freigabe – auf der Ursprungswebsite eingestellt werden können, durch ihre Begrenzung auf 3.000 Zeichen einschließlich Leerzeichen aber letztlich kein äquivalentes Gewicht erhalten würden.

Auch die spätere Einstellung von Ergebnisse aus Wiederholungsprüfungen (§ 115 Abs. 1a S. 4 SGB XI) verändere zwar den Inhalt der Ursprungswebsite, aber nicht die erfolgte – möglicherweise enorme und dann weltweite – Gesamtverbreitung der Altversion im Internet. Diese könne über Suchmaschinen wie Google auch weiterhin genauso präsent sein wie die von der Antragsgegnerin benutzte (und gegebenenfalls aktualisierte) Website.

Dagegen habe eine Aufschiebung der Veröffentlichung lediglich eine vorübergehende Verzögerung des damit beabsichtigten Transparenzgewinns für die Interessenten zur Folge, die aber auch bislang auf andere Erkenntnisquellen bei der Auswahl ihrer Einrichtung angewiesen waren, ohne dass dies – soweit erkennbar – viele Jahre lang zu gravierenden Nachteilen geführt hätte.

Da die Veröffentlichung innerhalb einer Woche vom Tag des Beschlusserlasses aus droht, sei auch die notwendige Dringlichkeit für eine einstweilige Anordnung gegeben.

Konsequenzen für die Praxis:
Die Entscheidung enthält interessante Ansatzpunkte für ein Vorgehen gegen die Veröffentlichung von Transparenzberichten.
Mit demselben Ergebnis der Untersagung der Veröffentlichung haben bereits die Sozialgerichte Münster, Beschl. v. 18. Januar 2010 – S 6 P 202/09 ER und Dessau-Roßlau mit Beschl. v. 04. Januar 2010 – S 3 P 90/09 ER entschieden. Weitere Informationen dazu finden Sie hier. Das Sächsische LSG hingegen hat eine Veröffentlichung für zulässig erklärt.
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