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Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Dazu hat der BGH am 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 – entschieden. Und zwar hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil des Landgerichts auf die Revision des Angeklagten aufgehoben und ihn freigesprochen.

Was ist passiert?

Die Entscheidung des Landgerichts

Das Landgericht hat den Angeklagten P. wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die ursprünglich mitangeklagte Frau G. hat das Landgericht rechtskräftig freigesprochen.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Gesundheitszustand der Frau K.

Der Angeklagte ist ein für das Fachgebiet des Medizinrechts spezialisierter Rechtsanwalt. Nach den Feststellungen des Landgerichts beriet er die beiden Kinder der 1931 geborenen Frau K., nämlich die mitangeklagte Frau G. und deren inzwischen verstorbenen Bruder. Frau K. lag seit Oktober 2002 in einem Wachkoma. Sie wurde in einem Pflegeheim über einen Zugang in der Bauchdecke, eine sog. PEG-Sonde, künstlich ernährt. Eine Besserung ihres Gesundheitszustandes war nicht mehr zu erwarten.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Wille der Frau K.

Entsprechend einem von Frau K. im September 2002 mündlich für einen solchen Fall geäußerten Wunsch bemühten sich die Geschwister, die inzwischen zu Betreuern ihrer Mutter bestellt worden waren, um die Einstellung der künstlichen Ernährung, um ihrer Mutter ein Sterben in Würde zu ermöglichen.

Weiterer Werdegang der Versorgung

Nach Auseinandersetzungen mit der Heimleitung kam es Ende 2007 zu einem Kompromiss, wonach das Heimpersonal sich nur noch um die Pflegetätigkeiten im engeren Sinne kümmern sollte, während die Kinder der Patientin selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter im Sterben beistehen sollten.

Nachdem Frau G. am 20. Dezember 2007 die Nahrungszufuhr über die Sonde beendet hatte, wies die Geschäftsleistung des Gesamtunternehmens am 21. Dezember 2007 jedoch die Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Den Kindern der Frau K. wurde ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Durchtrennung des Schlauchs der PEG Sonde auf Rat des Angeklagten

Darauf erteilte der Angeklagte P. Frau G. am gleichen Tag den Rat, den Schlauch der PEG-Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen.

Frau G. schnitt Minuten später mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch durch. Nachdem das Heimpersonal dies bereits nach einigen weiteren Minuten entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet hatte, wurde Frau K. auf Anordnung eines Staatsanwalts gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie starb dort zwei Wochen darauf eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Die Erwägungen des Landgerichts

Das Landgericht hat das Handeln des Angeklagten als einen gemeinschaftlich mit Frau G. begangenen versuchten Totschlag durch aktives Tun – im Gegensatz zum bloßen Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung durch Unterlassen – gewürdigt, der weder durch eine mutmaßliche Einwilligung der Frau K. noch nach den Grundsätzen der Nothilfe oder des rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt sei.

Auch auf einen entschuldigenden Notstand könne sich der Angeklagte nicht berufen. Soweit er sich in einem sog. Erlaubnisirrtum befunden habe, sei dieser für ihn als einschlägig spezialisierten Rechtsanwalt vermeidbar gewesen.

Die Mitangeklagte G. hat das Landgericht freigesprochen, weil sie sich angesichts des Rechtsrats des Angeklagten in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden und deshalb ohne Schuld gehandelt habe.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Dazu der BGH:

Die Entscheidung

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat das Urteil auf die Revision des Angeklagten aufgehoben und ihn freigesprochen.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen in Fällen aktueller Einwilligungsunfähigkeit von einem bindenden Patientenwillen auszugehen ist, war zur Tatzeit durch miteinander nicht ohne weiteres vereinbare Entscheidungen des Bundesgerichtshofs noch nicht geklärt.

Divergenzen in der Rechtsprechung betrafen die Verbindlichkeit von sog. Patientenverfügungen und die Frage, ob die Zulässigkeit des Abbruchs einer lebenserhaltenden Behandlung auf tödliche und irreversibel verlaufende Erkrankungen des Patienten beschränkt oder von Art und Stadium der Erkrankung unabhängig ist, daneben auch das Erfordernis der gerichtlichen Genehmigung einer Entscheidung des gesetzlichen Betreuers über eine solche Maßnahme.

und die vorliegende Gesetzgebung

Der Gesetzgeber hat diese Fragen durch das sog. Patientenverfügungsgesetz mit Wirkung vom 1. September 2009 ausdrücklich geregelt. Der Senat konnte daher entscheiden, ohne an frühere Entscheidungen anderer Senate gebunden zu sein.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Wo der BGH dem Landgericht zustimmt

Das Landgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die durch den Kompromiss mit der Heimleitung getroffene Entscheidung zum Unterlassen weiterer künstlicher Ernährung rechtmäßig war und dass die von der Heimleitung angekündigte Wiederaufnahme als rechtswidriger Angriff gegen das Selbstbestimmungsrecht der Patientin gewertet werden konnte.

Die im September 2002 geäußerte Einwilligung der Patientin, die ihre Betreuer geprüft und bestätigt hatten, entfaltete bindende Wirkung und stellte sowohl nach dem seit dem 1. September 2009 als auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs dar. Dies gilt jetzt, wie inzwischen § 1901a Abs. 3 BGB ausdrücklich bestimmt, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Wo der BGH vom Landgericht abweicht

Dagegen trifft die Bewertung des Landgerichts nicht zu, der Angeklagte habe sich durch seine Mitwirkung an der aktiven Verhinderung der Wiederaufnahme der Ernährung wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht.

Die von den Betreuern – in Übereinstimmung auch mit den inzwischen in Kraft getretenen Regelungen der §§ 1901a, 1904 BGB – geprüfte Einwilligung der Patientin rechtfertigte nicht nur den Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung diente.

Eine nur an den Äußerlichkeiten von Tun oder Unterlassen orientierte Unterscheidung der straflosen Sterbehilfe vom strafbaren Töten des Patienten wird dem sachlichen Unterschied zwischen der auf eine Lebensbeendigung gerichteten Tötung und Verhaltensweisen nicht gerecht, die dem krankheitsbedingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf lassen.

(Quelle: Pressemitteilung des BGH Nr. 129/2010)

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar?

Dazu siehe auch: https://raheinemann.de/haften-aerzte-bei-lebenserhaltung-mit-leidensverlaengerung/ und https://raheinemann.de/faelschung-von-impfpaessen-nicht-strafbar/ und https://raheinemann.de/ex-lehrerin-erhaelt-freiheitsstrafe-wegen-betrug-mit-gefaelschten-rezepten/ und https://raheinemann.de/ohne-vorsatz-keine-verurteilung-bei-verwendung-von-falschem-attest/ und https://raheinemann.de/neue-gesetzliche-regelung-zur-patientenverfuegung/ und https://raheinemann.de/arzt-fuer-patientensuizid-strafrechtlich-verantwortlich/

Rolf Heinemann

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Medizinrecht

Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht

Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Dazu hat der BGH am 25. Juni 2010 - 2 StR 454/09 - entschieden.
Rechtsanwalt Rolf Heinemann: Abbruch lebenserhaltender Behandlung strafbar? Dazu hat der BGH am 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 – entschieden.